Der Bildschirm. Schreiben auf Wasser

Wasser ist weich und hart. Wasser löst, schwemmt, spaltet, arbeitet. Es reinigt und zerstört, die Meere sind der Ursprung des Lebens und der Abgrund des Grauens. Es gibt keine Vorstellung über die Bedeutung des Wortes Wasser, die nicht selbst unmittelbar zu fließen beginnt.

Bergbach, Wellen, Dunst, Fruchtwasser, Aufleuchten, Regenbogen. Donnern, Schäumen, Mur-meln, Stöhnen, Aufspringen, Verschlingen, Strömen. Wasser ist teuer, Wasser ist billig. Eiszeit, Wassersport, Black Atlantic. Der Mensch besteht zu etwa 70% aus Wasser. Selbst in den Kno-chen ist der Anteil hoch.

Die Bedeutung der Flüssigkeit, die den Grundträger des Lebens auf der Erde bildet, ist in seiner Vielfalt und Gegensätzlichkeit sozusagen unaussprechlich. "Und doch verstehen wenige, daß das Leben letztlich nichts anderes als organisiertes Wasser ist", schreibt Paul Valéry in seinem "Lob-lied auf das Wasser". "Man betrachte eine Pflanze, bewundere einen großen Baum, so erkennt man im Geiste, daß sie nichts anderes als ein aufgerichteter Fluß sind."

Und trotzdem wird alles, was man mit dem Wort Wasser bezeichnet, in die Irre geleitet: Wasser selbst ist nicht sichtbar. Es hat keine Farbe, keinen Geschmack und keinen Geruch. Es ist - wie Licht - schwarz oder durchsichtig und wird erst im Zusammentreffen mit anderen Substanzen wahrnehmbar. Es ist im visuellen Bereich ein Medium von Erscheinungen.

Trinkwasser, Brackwasser, Wasserfall, Flußbett, Zierbrunnen: Was man als Wasser sieht, ist das Licht, das es reflektiert, es wird gefärbt, angefüllt, eingesogen, beleuchtet. Alles schreibt sich in den unsichtbaren Träger, wird von diesem getragen. Wasser verkürzt den Löffel im Glas, dehnt ihn, Licht wird gespiegelt, gebrochen.

Wasser ist ein Transportmedium für chemische Substanzen und Energien. Für die Wahrnehmung ist es ein Medium seiner Erscheinungs- und Fließformen: Unterirdische Wege, Versickern, Ab-wasser, Tropfsteinhöhlen. Die Reise des Flusses, das Delta, das Meer. Gebadet, berührt, Ablage-rungen, Strandgut. Schwimmen und Tauchen. Das Dürsten, die Transparenz. Nymphen und Quellen.

Die Reise Flußaufwärts, Irrfahrten, Abenteuer: Dem Lauf des Wassers folgen auch die Grund-formen des Erzählens. In Sagen und Märchen bilden Flüsse, Meere oder der Grund des Brunnens das "Ende der Welt" oder den Übergang in eine andere. Die Zeit wird in Bildern beschrieben, die den Erscheinungsformen des Wassers entnommen sind. Die Zeit verfließt. Verbunden damit sind immer Ende und Verwandlung.

Die Donau fließt durch neun Länder. Sie spielte ein wesentliche Rolle bei der Besiedelung und in der politischen Geschichte Mittel- und Südosteuropas. Schlösser, Sagen, Städte, Klöster, Walzer: Flüsse bilden Handelswege der Sprache, Wasseradern der Wirtschaft, Lebensräume der Musik. Die "Fremdlingin", wie Hölderlin die Donau nannte, ist in seinen Worten eine "menschenbilden-de Stimme".

Wasser ist erleichternd: Der Körper verliert das Gefühl für sein Gewicht, er wird getragen, Be-wegungen und Formen des Schwimmens werden verlangsamt oder beschleunigt. Bei der Inter-pretation von Träumen wird Wasser die Bildqualität von Gefühlswahrnehmungen und Sinnlich-keit zugeschrieben. Das Eintauchen, das Nasse, das spritzende, schäumende, reißende Wasser
wird hier zu einem Symbol für die Sexualität. Das Verschwommene, der Schlamm, der Nebel, verbunden mit Requisiten wie Moorlandschaften oder Werwölfen werden zu Bildern von Gefahr, Angst und Schrecken.

Wasser umfaßt alle möglichen Symbolbildungen von Goethes Lebensfluß in "Mahomets Gesang" und Hölderlins Hymnen an den Rhein, die Donau oder den Neckar bis zu Philosophischen Begriffen. In der Philosophie werden Beweglichkeit und Transparenz, Leere, Aufnahmefähigkeit, Flüssigkeit und Flüchtigkeit zum Inbild für Geist und Bewußtsein. "Der Geist eines Kindes ist wie ein Ball auf dem Wasser", schreibt der Zen-Meister Takuan Soho. "Der Geist eines Kindes ist wie Schreiben auf Wasser", heißt es bei Hegel. Wasser ist ein letztes Symbol für die Symbol-bildung selbst.

Das Wort Wasser hat jede mögliche Bedeutung, innerhalb der Sprache ist es selbst ein reiner In-formationsträger. Der Inhalt des Wortes Wasser ist der Inhalt des Bewußtseins, in dem es zum Gebrauch kommt. Es entspricht einem Bildschirm, auf dem eine Vorstellung sichtbar wird. Es gibt nichts, was nicht über Wasser geschrieben wurde, es ist eine universelle Bildfläche der Ge-dankenbildung, der Gefühlsäußerungen.

Das Wort Wasser kann jede Information darstellen, es nimmt dadurch zwar selbst vielleicht in einem allgemeinen Sinn an "Bedeutung" zu, die Information, die mit dem Wort verbunden ist, läßt sich aber nur im Sinne von "alles oder nichts" beschreiben.

In dieser Semantik bildet der Bildschirm eine Oberfläche, er ist der Träger eines Inhalts, der er-lischt, wenn der nächste dargestellt wird. Ob Wellenblinken oder Ball, Symbol oder Donau: Die Oberfläche ist immer in Bewegung, bildet einen fortwährenden Rhythmus des Sichtbarwerdens und des Verschwindens, von Anwesenheit und Geheimnis. Sie ist letztendlich ein Bewußt-seinsspiegel dessen, der den Blick auf sie richtet.

Wie die Bildschirme, an denen die Netze zusammenfließen, bildet das Wasser spiegelnde Flä-chen. Wie bei der Lochmaske wird Licht darauf sichtbar. Alles wird in die Ordnung des Fließens eingeordnet, ins Vorbeiziehen. Die Wasserfläche des Bildschirms reduziert das Geschriebene auf einen Augenblick des Schreibens, es hat kein Gedächtnis. Es wird dunkel und still wie die Bild-röhre.

Der Bildschirm entspricht einer Sehnsucht nach der Beweglichkeit und Wiederbeschreibbarkeit des Wassers. Das Sich-hingezogen-Fühlen zum Monitor, das Hineintauchen in die Netzwerke und das weltweite Fließen der Bilder und Verwandlungen, das Hin-und-zurück der Gedanken und Wortbildungen entspricht im Sinne des "Schreibens auf Wasser" einer Sehnsucht des Bewußt-seins nach sich selbst und seinen Anfängen.

Close-up, Bildschnitt, Textfluß und das beständige Neuordnen der Bildpunkte erzeugen das Er-lebnis, bei sich selbst zu sein. Das Bewußtsein wird durch den Bildschirm von seinen Inhalten befreit, es wird selbst als Bildschirm und Selbstbetrachtungsfläche sichtbar. Es taucht in sein ur-eigenstes Spiel von An- und Abwesenheit, der Grundform des Sichtbaren und des Imaginären.

"Der Mathematiker den ich vorhin anrief, hat also bei seiner Muscheluntersuchung drei sehr ein-fache Beobachtungen machen können", schreibt Paul Valéry in "Der Mensch und die Muschel" ... Seine eigenen Beobachtungen kommen nach ca. 20 Seiten zu keinem Schluß, und er schließt seine Betrachtung über das Naturphänomen mit drei Punkten: "[...] so ruft dieser kleine, hohle, gewundene Körper aus Kalk vor dem menschlichen Blick Gedanken herbei, von denen keiner sich vollendet ...".

Diese drei Punkte, die Verbindung zum Nächsten in einem Netz unendlich möglicher Bedeutun-gen trifft auf Wasser in einer noch stärkeren Weise zu. Werden beim Wort Muschel weitere Wor-te herangezogen, um seine Bedeutung zu beschreiben, so bilden das Wort Wasser sowie die da-zugehörigen Bezeichnungen seiner Aggregatzustände, Fluß- und Ruheformen eine Trägersub-stanz in der Sprache, die wie ein Palimpsest alle denkbaren Inhalte darstellen können. Sie bezie-hen, wie der Bildschirm, ihre Bedeutung nicht nur aus ihren vergangenen Bedeutungszuweisun-gen, sondern sind in sich fließend. Ihre Bedeutung erhalten sie aus dem Fließen und der Ver-wandlung selbst, und beziehen ihren Inhalt aus dessen beständiger Erneuerbarkeit. Die semanti-sche Zuweisung ist nicht nur eine bereits vollzogene, vorprogrammierte, sondern immer auch eine zukünftige, noch unvorhersehbare. Im Sinn einer solchen semantischen Offenheit könnte man sagen, sie sind zugleich frei für und frei von jeder Bedeutung.


Matthias Goldmann, Wien Februar 2000